von Jean Mercier, Chartres
Am 05. Juni 1947 wurde das Stacheldrahtseminar aufgelöst. Die letzten 369 Seminaristen sollten ihren Regens nie wiedersehen. Franz Stock kehrte nach Paris zurück und wartete auf eine baldige Entlassung. Er hatte weiterhin den Status eines Kriegsgefangenen. Er blieb, um sich um die Deutschen zu kümmern, die als freiwillige Arbeiter in Frankreich zurückbleiben wollten.
Im September 1947 hatte er einen Kardiologen aufsuchen müssen. Die Diagnose fiel sehr pessimistisch aus. Nach den Weihnachtstagen schien es Franz Stock besser zu gehen; doch bald verschlechterte sich seine Gesundheit. Pater Brass erzählt, wie er am Sonntag, dem 22.02.1948 Franz Stock zum Krankenhaus Cochin begleiten musste. Dort starb er am 24.02.1948 gegen 16:00 Uhr an einem Herzversagen. Bereits am Abend bekam seine Familie in Neheim ein Telegramm mit der Nachricht des unerwarteten Todes.
Da er für die französische Verwaltung noch Kriegsgefangener war, durfte der Tod Abbé Stocks nicht bekannt gegeben werden. So waren am 28.02.1948 beim Trauergottesdienst in der Kirche Saint Jacques du Haut-Pas weniger als hundert Personen anwesend. Msgr. Rodhain zelebrierte das Requiem. Nuntius Roncalli segnete den Verstorbenen ein und sprach den berühmten Satz aus: "Abbé Stock, das ist kein Name, das ist ein Programm." Kardinal Suhard, Erzbischof von Paris hatte einen Vertreter geschickt. General Buisson, Staatssekretär für das Kriegsgefangenenwesen im Kriegsministerium, Minister Michelet und andere Personen von Namen und Rang waren gekommen. Franz Stocks Familie bekam keine Einreiseerlaubnis und konnte nicht kommen.
Anschließend wurde der Verstorbene in einem schlichten Armensarg auf dem Friedhof Thiais 15 km südlich von Paris beerdigt.
16 Monate später, am 03. Juli 1949 fand im Invalidendom in Paris die erste öffentliche Feier zum Gedenken an Franz Stock statt. In der damaligen Zeit, die geprägt war von einem weit verbreiteten Ressentiment, war eine solche Zeremonie an einem solchen Ort, der 1670 vom französischen "Sonnenkönig" Ludwig XIV gegründet wurde, einige Meter von Napoleons Sarkophag etwas Besonderes. Frühere Gefangene und Mitglieder der französischen Widerstandsbewegung hatten diese Zeremonie veranlasst.
Im selben Jahr 1949 erfuhr Abbé Le Meur, dass das Grab in Thiais, sowie andere Kriegsgefangenengräber eingeebnet, und die Gebeine in ein Massengrab beerdigt werden sollten. Abbé Le Meur bewirkte, dass Franz Stocks Grab nicht beseitigt wurde, und es blieb dabei.
1951 feierte die Diözese Chartres ein Jubiläumsjahr der Kathedrale. Bischof Harscouët lud die Ehemaligen des Stacheldrahtseminars, die "Chartrenser" nach Chartres ein. Da man davon ausging, dass sie das Grab ihres früheren Regens aufsuchen würden, meinte Abbé Le Meur, man müsse ein ordentliches Grab mit einem würdigen Grabstein errichten. Er stellte den Grabplatz seiner Familie zur Verfügung und sammelte bei den früheren Internierten und ihren Familien Geld für diesen Grabstein. Er trägt folgende Inschrift (in französischer Sprache):
PAX
für
Franz Stock
Priester der Diözese Paderborn
1904 -1948
Seelsorger der Gefängnisse von Fresnes, La Santé und Le Charche Midi
1940 - 1944
Die dankbaren Familien der französischen Gefangenen und Erschossenen
Die "Chartrenser" im August, und am 27. Oktober 1951 die Familie Stock fanden ein ordentliches Grab vor. Für die Fahrt der Familie Stock hatte Bundeskanzler Konrad Adenauer die Kosten übernommen.
1959, bei ihrer Pilgerfahrt nach Rom, wo sie vom Papst Johannes XXIII. in Audienz empfangen wurden, der sie früher als Nuntius Roncalli viermal im Stacheldrahtseminar in Le Coudray besucht hatte, erfuhren die "Chartrenser", dass in Chartres eine Kirche gebaut werden sollte, und zwar in einer neuen Gemeinde, wo man bisher eine Holzbaracke aus ihrem früheren Gefangenenlager als Kapelle benutzte. Pfarrer René Closset hat mir erzählt, unter welchen Umständen, er diese Holzbaracke, die im übrigen Gefangenenlager als Kapelle gedient hatte, in Le Coudray entdeckte und nach Chartres - Rechèvres transportieren lieβ.
Die alte Holzkapelle wurde somit zum Bindeglied zwischen dem früheren Gefangenlager und der neuen Pfarrgemeinde am anderen Ende der Stadt. Im September 1961 wurde die neue Kirche St Jean-Baptiste geweiht. Die ehemaligen "Chartrenser" stifteten die beiden Altäre.
So kam die Idee auf, dass Franz Stock hier, ein paar Kilometer vom "Stacheldrahtseminar" seinen Platz habe.
Im Juni 1963 war es soweit. 15 Jahre nach seinem Tod kehrte Franz Stock nach Chartres zurück. Damals war ich 17 und Pfadfinder in Chartres-Rechèvres. Pfarrer Closset hatte uns Pfadfinder gebeten, am Nachmittag des 15. Juni 1963 vor dem Eingang der Kirche ein Ehrenspalier zu bilden. So standen wir in zwei Reihen da und warteten. Viele Leute warteten ebenso auf dem großen Platz. In dieser unüberschaubaren Menge wurde Deutsch und Französisch gesprochen. Nicht selten war deutlich, dass viele Leute sich nach langer Zeit wiedersahen. Die Gesichter waren abwechselnd freudig und ernst, wie man das kennt, wenn verstreute Angehörige sich bei der Beerdigung eines Familienmitgliedes wiedersehen. Man trauert, und doch ist man froh, einander wiederzusehen. Dann erklang ein Glockengeläut und die Menschenmenge wurde augenblicklich still. Wenige Minuten später hielt der Totenwagen und Franz Stocks Sarg wurde durch die schweigende Menge und die doppelte Reihe der jungen Pfadfinder an mir vorbei in die Kirche getragen. Nur die Schritte der Männer, die den Sarg trugen, waren zu hören. Der Verstorbene wurde vor dem Altar aufgebahrt. Eine Gebetswache zog sich bis zum Morgen des 16. Juni hin. Bei der Zeremonie in der Kirche hörte ich, was Persönlichkeiten wie Edmond Michelet, Domprediger Riquet und Joseph Foliet, die ihn, gekannt hatten, über Franz Stock sagten. Das Telegramm, das der Papst kurz vor seinem Tod verfasste, wurde verlesen: "Franz Stock, das ist nicht nur ein Name, das ist auch ein Programm". Die Kernbedeutung dieser Botschaft war sofort klar: Wer und was Franz Stock gewesen ist, erschöpfte sich nicht in einem historischen Begriff, der ein für allemal hinter uns wäre; diese Botschaft war verpflichtend für die Gegenwart und die Zukunft. Franz Stocks Vorbild aus gestern hatte heute noch seine ganze Kraft. Wir waren der Zukunft verpflichtet.
Vor der Messfeier hatte der Platz vor der Kirche den Namen "Place Abbé Stock" bekommen. Bevor das Straßenschild enthüllt wurde, hielt Minister Edmond Michelet eine Ansprache, die tief in die Herzen der unzähligen Anwesenden ging. Er, der die ganze Grausamkeit des Krieges hatte erleiden müssen, lobte in bewegenden Worten den deutschen Priester Franz Stock. Im Jahre 1963, 18 Jahre also nach Kriegsende, war das in Frankreich eine noch nie gehörte Sensation. Treffend berichtet Dieter Lanz in seinem Buch " Abbé Franz Stock: Kein Name - ein Programm" über die Gefühle der Anwesenden: "Dies ist eine geschichtliche Stunde", "Hier wird Geschichte". Als ich das Buch las, dachte ich: "Ich war also nicht der einzige, der so dachte." Die ergreifende Stimmung von damals in der Menge vor und in der Kirche kam in mir wieder hoch.
Von Neheim-Hüsten waren etwa 50 deutsche Jugendliche nach Chartres gekommen. Viele französische Mitglieder der katholischen Jugendorganisationen der Pfarrgemeinde St. Jean-Baptiste – Rechèvres / Chartres waren auch zugegen. Pater Closset und die beiden Begleiter der Jugendgruppe aus Neheim-Hüsten (Vikar Arens und Studienrätin Frl. Beckmann) schlugen den französischen Jugendlichen vor, an einer Busfahrt der deutschen Jugendlichen teilzunehmen. Diese Fahrt mit zwei Bussen führte am folgenden Tag zum Schloss Versailles und dann weiter nach Suresnes einem Pariser Vorort im Westen zur Gedenkstätte der französischen Widerstandsbewegung Mont Valérien. Versailles und Mont-Valérien sind wahrhaftig zwei schicksalhafte Orte in der deutsch-französischen Geschichte. Das war uns damals noch nicht ganz klar. Am Anfang der Fahrt waren wir noch etwas unsicher; bald aber wurden wir mutiger. Die deutschen Freunde waren die ersten, die den Kontakt zu uns suchten. Viele von ihnen hatten Französisch in der Schule und wollten ihre Sprachkenntnisse erproben. Unter den französischen Jugendlichen war ich der Einzige, der Deutsch in der Schule hatte (ganze 2 Jahre!). Als ich merkte, dass ich mehr konnte, als ich mir zugetraut hatte, fasste ich Mut und mischte mich ein. Der Besuch am Mont-Valérien hat mich damals direkt und indirekt sehr beeindruckt; indirekt weil die Reaktion der deutschen Freunde auf das, was man uns erklärte, geradezu traumatisch war. Sie taten uns leid.
Auf dieses erste Treffen folgten andere, in Neheim, Chartres ... Ein Höhepunkt war 1966 die gemeinsame Arbeit für die Karmeliten des Klosters hinter dem früheren KZ Dachau bei München. Unser Gastgeber war Josef Lechner Pfarrer von Dachau und Chartrenser. Wir übernachteten im Pfarrheim und gingen jeden Morgen die Hauptallee des KZ hoch bis zum Kloster. Links und rechts dieser Allee eine Kopie der früheren Baracken.
Die Teilnahme an der Umbettung hat unser späteres Leben maβgebend beeinflusst oder gar bestimmt. Freundschaften wurden geknüpft; unter den deutschen Teilnehmer(innen) sind mehrere Französischlehrer(innen) geworden. Ich selbst war Deutschlehrer.
Vieles haben wir Franz Stock zu verdanken. Wir hoffen, dass er eines Tages seliggesprochen wird. Wer an der Umbettung im Juni 1963 teilgenommen hat, ist davon überzeugt, dass die deutsch-französische Aussöhnung und die resultierende Freundschaft dem für die Seligsprechung notwendigen Wunder sehr nahe kommt.
Jean Mercier, Chartres
Fotos von Umbettung am 15./16. Juni 1963 in Chartres:
Quellennachweis:
• lokale Presse in Chartres
• Dieter Lanz, Abbé Franz Stock : Kein Name - ein Programm Bonifatius Verlag
• Raymond Loonbeek, Franz Stock la fraternité universelle 1904 - 1948 Biographie Editions Salvator
• Jean Mercier, persönliche Erinnerungen